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Doppelmorbidität

Klaus von Ploetz

Bei jährlich über 630 Millionen verkauften Packungen auf dem Arzneimittelmarkt, mit einem freiverkäuflichen Anteil von fast 40% zur Selbstmedikation, ist die Gefahr des Medikamentenmissbrauchs und dann folgender Medikamentenabhängigkeit recht hoch einzuschätzen.

Es sind besondere Psychodynamiken und auch Diagnosegruppen zu nenne, die statistisch mit einem höheren Risiko zur Entwicklung eines Medikamentenmissbrauchs oder Abhängigkeit belastet sind und die sich im weiteren Verlauf in einem komplexen Störungsbild zusammenfinden, für die sich der Begriff "Doppelmorbidität" in besonderer Form als neue Begrifflichkeit eignet.
Grundsätzlich bleibt aber auch, dass die Betroffenen mit psychischen und psychosomatischen Störungen das Potential haben, psychoaktive Medikamente jeder Art zu missbrauchen.
Fragt man nach Gründen für diese Entwicklung, so muss al erstes auffallen, das aktuelle Gesundheitssystem ist diese Erkrankungen der Moderne immer noch nicht gut genug aufgestellt. Das Gesundheitssystem geht strukturell von Akuterkrankungen aus, Erkrankungen die ein Potential zu chronischen Verläufen haben, brauchen daher oft zu 10 Jahren bevor sie zu einer fachgerechten Behandlung finden.

Wie hilfreich dieses integrative Konzept ist mag auch das folgende Fallbeispiel zeigen:

Herr D., 49 Jahre alt, wir in eine psychosomatische Rehabilitationsklinik nach langjährigem Krankheitsverlauf aufgenommen.
Aus der Anamnese geht hervor, dass Herr D. als "Key Account Manager" Topkunden eines Dienstleistungsunternehmens beraten hatte mit hoher Personal-Finanzverantwortung. Mehr als 10 Jahre hielt dieser berufliche Aufstieg an. Danach beginnen berufliche Krisen, zwei Ehen, der Kontakt zur Tochter, sein ganzes Vermögen gehen verloren, eil er in den verhängnisvollen Kreislauf von beruflicher Überlastung und der Abhängigkeit von Tranquilizern gerät. Jahrelang hatte er sich mit großem Engagement in die Arbeit gestürzt um einfach Erfolg zu haben. Die zunächst vom Arzt wegen Unruhezustände und Schlaflosigkeit verordneten Tranquilizer, hoch wirksame Medikamente gegen Unruhe und Ängste, wirken sofort beruhigend und entspannend. Anfangs hält sich Herr D. noch an die verordnete Dosis, erhöht aber dann selbstständig die Dosis auf bis zu 10 Tabletten pro Tag.
Mit diesen Tranquilizern gelingt es ihm das aus sich herauszuholen was Körper und Geist ohne diese Medikamente versagen: ständige Leistung. Es geht nur noch um dieses Leistungsvermögen, alle anderen Kontakte gehen langsam verloren. Eines Tages kommt es zu einem körperlich-seelischen Zusammenbruch mit anschließender Krankenhauseinweisung. Nach der Entlassung wiederholt sich dieses Schema: Überarbeitung, Tranquilizergebrauch mehrmals. Die Folgen sind häufiger Arbeitsplatzwechsel, sozialer Abstieg und angedrohte Kündigung.

Jetzt erst nach stationärer Aufnahme in die psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb erfolgt eine Aufarbeitung des eigentlich bestehenden Grundkonflikts samt bestehender struktureller Defizite. Nach der Entlassung gelingt es dem Patienten durch eine Wiedereingliederungsvereinbarung mit seinem Arbeitgeber wider in seinem Beruf Fuß zu fassen. Weiter kommt es zu einem Freiwilligenengagement in einer Beratungsstelle. Seit dieser Zeit kam es zu keiner weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Aus der weiteren Nachsorge geht hervor, dem Patienten ist es gelungen jetzt ein zufriedenes Leben in Abstinenz zu führen.